18. Dezember 2021

Wir arbeiten dran! Töchter und Söhne von Gastarbeiter*innen teilen ihre Erinnerungen

von Dr. Çiçek Bacık

Sie folgten ihren Eltern aus den Dörfern Anatoliens, Südeuropas, des Balkans nach Deutschland oder kamen in einem Arbeiter*innenviertel der Bundesrepublik zur Welt. Ihre Eltern sollten in Deutschland als «Gastarbeiter*innen» den Wirtschafts-aufschwung beflügeln, ihre Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnisse traten aber nie wirklich ins öffentliche Bewusstsein. Diesen wichtigen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte teilen die «Daughters and Sons of Gastarbeiters» seit 2015 mit allen, die ihn – endlich – zur Kenntnis nehmen wollen. Nach der ersten öffentlichen Lesung im Wasserturm am Kreuzberger Chamissoplatz folgten viele weitere in Berlin und weit darüber hinaus.

Jahrelang habe ich die Idee, die nicht gesehenen, nicht gehörten, immer in irgendein Ausland verlagerten Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit mir herumgetragen, bis ich es eines Tages einfach tat. Ich hatte schon als Jugendliche viel Tagebuch geschrieben. Jahre später entdeckte ich die Texte wieder. Nach einer Lesung saß ich eines Abends mit der Journalistin Ferda Ataman zusammen – und wir beschlossen: Wir müssen endlich auch unsere Geschichten erzählen! Das war die Geburtsstunde der «Daughters and Sons of Gastarbeiters».

Wir fragten in unserem Umfeld herum. Schnell war ein halbes Dutzend Mitstreiter*innen gefunden. In den Wasserturm kamen Freund*innen, Bekannte und Familienmitglieder. In den Raum, der für 70 Personen ausgelegt war, fanden fast 150 Leute Platz. Schon an diesem ersten Abend erlebten wir Reaktionen, wie sie seitdem bei unseren Lesungen kommen: Andere Kinder (und Enkel*innen) der sogenannten Ersten Generation kamen auf sie zu und sagten: «Das, was ihr da erzählt, ist auch meine Geschichte, das habe ich auch so erlebt.» Manchmal fließen sogar Tränen.

In einer Gesellschaft, in der unsere Geschichten – richtiger müsste es heißen: unsere Leben – kaum in Romanen und Fernsehprogrammen, auf Theaterbühnen, auf Kinoleinwänden oder in Schulbüchern vorkommen, müssen wir sie selbst «präsentieren». Immer wieder zeigt sich, wie unglaublich wichtig unsere Perspektive ist, auch wenn sie in den Institutionen und im kollektiven Gedächtnis kaum vorkommt. Auch und gerade in einer Zeit, in der «ethnische» und «religiöse» Vorder-, Hinter- und Untergründe eine immer größere Rolle spielen…

Die ehrenamtlich organisierten Lesungen der «Daughters and Sons» richten den Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Migrationserfahrung, auf unsere Lebenswirklichkeiten. Um «meine» Geschichte erzählen zu können, sprach ich zum ersten Mal ausführlich mit meinem Vater über seine Erfahrungen in Deutschland: wie er hier ankam, wo er zuerst hinkam, was und wo er arbeitete. An den Lesungen nehmen meist drei bis fünf Autor*innen teil, so wie es der Ort und die Zeit am Abend oder am Wochenende gestatten. Wir tragen unsere Texte vor, etwa 15 Minuten pro Person, dazu werden Bilder auf eine Leinwand projiziert, oft aus dem eigenen Familienalbum. Gelegentlich gibt es etwas Musik – und zum Schluss natürlich auch die Möglichkeit, mit einander und mit dem «Publikum» in einen Austausch gehen.

Die Freiwilligkeit gibt uns dabei die Möglichkeit, unverstellt aus der eigenen Perspektive zu sprechen. Wir sprechen in niemandes Namen – außer in unserem eigenen. Unsere persönlichen Geschichten können viel eher berühren als ein wissenschaftlicher Vortrag oder eine Belehrung mit erhobenem Zeigefinger.

Mittlerweile sind wir über 30 Autor*innen unterschiedlichster Herkünfte und Altergruppen, die zum Teil der Initiative geworden sind. Viele kommen aus Berlin, andere auch aus anderen Teilen des Landes. Es ist erstaunlich, wie vergleichbar die Geschichten manchmal sind – vergleichbar ist aber auch die Abwesenheit im öffentlichen Diskurs, egal ob wir uns Gastarbeiter*innen aus Italien, Südkorea oder dem ehemaligen Jugoslawien anschauen. Solange das so ist, wird unser «freiwilliges» Engagement notwendig sein. Auf diese eine und viele andere Arten engagieren wir uns gesellschaftlich und politisch, wir gestalten die Berliner Gesellschaft und die Gesellschaft Deutschlands mit, auch wenn wir und unsere Geschichten nicht «vorgesehen» waren. Aus den Kindern von «Gästen» von einst sind heute Lehrkräfte, Journalist*innen, Jurist*innen, Architekt*innen, Bildungsmanager*innen, Künstler*innen – oder eben wiederum Arbeiter*innen geworden. Abwesend sind die meisten von uns immer noch. Aber wir arbeiten dran!

Dr. Çiçek Bacık koordiniert seit über sechs Jahren die ehrenamtliche Gruppe der «Daughters and Sons of Gastarbeiters», die mit ihren audio-visuell unterstützten Lesungen auch schon mit dem Migrationsrat Berlin zusammengearbeitet haben.