Kontrolle, Hierarchisierung und Ausgrenzung: der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD (2025 – 2029) kurz analysiert

Kontrolle, Hierarchisierung und Ausgrenzung: Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD (2025–2029) kurz analysiert Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung markiert eine klare politische Weichenstellung – weit weg von der Idee eines Sozialstaats, der schützt, stärkt und alle einschließt, hin zu einem System, das bestehende Ungleichheiten verstärkt und Rechte unter Vorbehalt stellt. Aus Sicht des Migrationsrats…

Kontrolle, Hierarchisierung und Ausgrenzung: Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD (2025–2029) kurz analysiert

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung markiert eine klare politische Weichenstellung – weit weg von der Idee eines Sozialstaats, der schützt, stärkt und alle einschließt, hin zu einem System, das bestehende Ungleichheiten verstärkt und Rechte unter Vorbehalt stellt. Aus Sicht des Migrationsrats Berlin wird damit auf Bundesebene eine Politik fortgeschrieben, die die Berliner Koalition seit der Wiederholungswahl 2023 bereits verfolgt.

“Leistung, Anpassung und Verwertbarkeit als Voraussetzung politischer Anerkennung: Wer nicht eigenständig klarkommt, wer von struktureller Diskriminierung betroffen ist, wer Unterstützung braucht, wird nicht gestärkt – sondern unter Verdacht gestellt”, so Ed Greve, Referent für Antidiskriminierung.

Dieser Perspektivenwechsel betrifft nicht nur einzelne Gruppen. Er betrifft alle Menschen, deren Teilhabe auf kollektiver Verantwortungsübernahme und rechtlicher Gleichstellung basiert: Pflegebedürftige, chronisch Kranke, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung, Beziehende von Sozialleistungen, Menschen im Asylverfahren und Geduldete, Arbeitsmigrant*innen, trans Personen und viele andere. Der Vertrag stellt nicht die Bedingungen infrage, unter denen Teilhabe erschwert wird. Er stellt stattdessen diejenigen infrage, die ausgeschlossen werden. Sie sollen die Folgen struktureller Benachteiligung individuell kompensieren.

Migrationspolitik: Abschottung statt Anerkennung

In der Migrationspolitik setzt die Regierung auf Abschottung, Kontrolle und Verwertungslogik. Die Unterscheidung zwischen „erwünschter“ und „unerwünschter“ Migration wird zur politischen Leitlinie. Schutzrechte werden zurückgefahren, das Asylrecht noch weiter eingeschränkt, Aufnahmeprogramme, die sichere Fluchtrouten gewährleisten, reduziert und der Familiennachzug erschwert. Die Einbürgerungspolitik wird zurückgedreht: Die Möglichkeit zur Einbürgerung nach drei statt fünf Jahren (sog. Turboeinbürgerung) soll gestrichen werden. Gleichzeitig wird ein enger Korridor für Arbeitsmigration geöffnet – aber nur für die, die als produktiv gelten. Migration wird nicht als soziale Realität verstanden, sondern als sicherheits- und ordnungspolitisches “Problem” – bzw. als wirtschaftlicher Nutzenfaktor.

Sozialpolitik: Disziplinieren statt absichern

Das Bürger*innengeld wird nicht als existenzsichernde Unterstützung, sondern zur Disziplinierungsmaßnahme umgebaut. Der Fokus liegt nicht auf Verhinderung von Armut, sondern auf der „schnellen Vermittlung in Arbeit“. Die Regierung unterstellt, dass Erwerbsarbeit grundsätzlich möglich und verfügbar sei – und blendet aus, unter welchen Bedingungen Menschen leben. Wer nicht “funktioniert”, soll „gesteuert“ werden. Wer sich nicht anpasst, verliert Ansprüche.

Behinderung bleibt Randthema

Grundlegend werden Sonderstrukturen im Koalitionsvertrag nicht infrage gestellt. Mitarbeitende in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gelten nach wie vor nicht als Arbeitnehmer*innen, sondern „Beschäftigte“; damit fehlen ihnen weiterhin grundlegende Arbeitnehmer*innen-Rechte. Statt inklusiver Beschäftigungsmodelle und notwendiger umfassender Reformen verspricht der Vertrag lediglich Verbesserungen beim Werkstattentgelt. Auch Barrierefreiheit wird lediglich im durch internationale Konventionen festgeschriebenen Mindestumfang für den öffentlichen Sektor versprochen – der private Sektor bleibt von Verpflichtungen befreit.

Bildung dient nicht der Emanzipation, sondern der Anpassung

In der Bildungspolitik zeigt sich dieselbe Logik: Statt Befähigung steht Konformität im Vordergrund. Bildung wird auf Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen reduziert. Frühkindliche Förderung soll ungleiche Startbedingungen ausgleichen – ohne Ursachen zu benennen, geschweige denn zu beheben. Demokratische Bildung, soziale Handlungskompetenz, kritisches Denken bleiben marginal. Politische Bildung wird überwiegend als Teil der Prävention von “Extremismus” verstanden.

Antidiskriminierung bleibt eine Leerstelle

Dem Koalitionsvertrag liegt insgesamt kein Verständnis von Antidiskriminierung als Querschnittsthema zugrunde. Diskriminierung und die Erfahrung von Diskriminierung werden individualisiert, marginalisiert und administrativ entpolitisiert. Weder der Ausbau bestehender Schutzmechanismen noch strukturell verankerte Strategien für Gleichstellung sind vorgesehen. Der Staat als Akteur, der selbst Diskriminierung ausüben kann, ist kein Thema.

Kein Geld für Soziales? Hauptsache keine Umverteilung

Steuer- und Haushaltspolitik setzen die sozialen Ungleichheiten fort und vertiefen sie. Die Koalition will bewusst auf Umverteilung verzichten. Eine Vermögenssteuer wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Große Erbschaften bleiben unangetastet. Kapitalgesellschaften werden steuerlich entlastet. Gleichzeitig wird bei Sozial-Leistungen gespart – mit Blick auf das Bürger*innengeld, auf die Verwaltung, auf öffentliche Infrastrukturen.

Keine Demokratieförderung

Demokratische Teilhabe wird durch diesen Vertrag nicht gestärkt. Die künftige Regierung plant Investitionen in die innere Sicherheit – nicht in zivilgesellschaftliche Strukturen. Die Idee vom Demokratiefördergesetz auf Bundesebene ist offenkundig vom Tisch. Auch Beteiligung wird nicht gefördert, sondern durch administrative Verfahren begrenzt. Demokratische Aushandlung tritt hinter Ordnungspolitik zurück.

Dieser Koalitionsvertrag schafft keine gerechtere Gesellschaft. Er stabilisiert eine Ordnung, in der Rechte an Bedingungen geknüpft sind. Er setzt auf Disziplin statt auf Solidarität, auf Verwertung statt Teilhabe. Die politische Strategie ist deutlich: Soziale Konflikte sollen nicht gelöst, sondern beruhigt werden. Nicht durch Ausgleich – sondern durch Ausschluss.

Kontakt für Rückfragen:

Edwin F. Greve, Referent für Antidiskriminierung
Mail: ed.greve [at] migrationsrat.de
Tel: 0176 99114943

Kontakt für Rückfragen & Interviews:

Ed Greve
0176 99 11 49 43