2. November 2023

Offener Brief: Antwort auf das Informationsschreiben der Bildungssenatorin vom 13.10.2023

Sehr geehrte Frau Katharina Günther-Wünsch,

wir als Träger der Demokratiebildung, Beratungs- und Bildungsstellen gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt, Antidiskriminierungsberatungsstellen und langjährige Kooperationspartnerinnen der Berliner Schulen haben Ihr Informationsschreiben vom 13.10.2023 „Umgang mit Störungen des Schulfriedens im Zusammenhang mit dem Terrorangriff auf Israel“ an die Schulaufsichten, die SIBUZ, die Schulämter, die schulpraktischen Seminare und insbesondere die Berliner Schulleitungen gelesen. Einige der dort aufgeführten Punkte lesen wir aus pädagogischer und schulpolitischer sowie rassismus- und antisemitismuskritischer Perspektive mit Sorge und Entsetzen.

Wir erhalten derzeit viele irritierte und besorgte Rückmeldungen zu Ihrem Schreiben von Schulen, betroffenen Schülerinnen und Erziehungsberechtigten, die ernst zu nehmen sind.

Aus fachlicher Perspektive halten wir die Anweisungen und Verbote in Ihrem Schreiben für kontraproduktiv und nicht zielführend. Wir erkennen im Schreiben keinen konstruktiven Beitrag, der den Schulfrieden nachhaltig fördern kann. Kleidungstücke und Symbole, wie die Kufiya, dürfen nicht per se als antisemitisch oder als Sympathiebekundung mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Hierdurch besteht die
Gefahr, dass Jugendliche und Kinder, die lediglich Teile ihrer Identität positiv ausdrücken oder ihre Solidarität mit palästinensischen Zivilistinnen zeigen wollen, willkürlich kriminalisiert werden. Diese Symbole werden im Übrigen auch getragen, ohne dass immer ein direkter Bezug zu aktuellen politischen Ereignissen besteht.

Pauschale Symbolverbote sind keine Handlungsoptionen gegen Antisemitismus und dienen auch nicht der Unterstützung jüdischer Schülerinnen; weder im Umgang mit (re)traumatisierenden aktuellen Ereignissen, noch mit strukturellem Antisemitismus in der Schule. Antisemitismus wird als augenscheinlich an palästinensischen Symbolen ablesbares Phänomen reduziert. Gleichzeitig suggeriert das Schreiben Gleichgültigkeit gegenüber der Betroffenheit, den Gefühlen und Bedürfnissen palästinensischer,
arabischer und/oder muslimischer Schülerinnen, die einen Zusammenhang zwischen den (re)traumatisierenden Bildern und ihrer von strukturellem Rassismus geprägten Lebensrealität in Deutschland erkennen können. Hierfür werden keinerlei Handlungsoptionen zur Verfügung gestellt.

Wir verzeichnen in den letzten zwei Wochen ein auffällig erhöhtes Beratungsaufkommen in Bezug auf antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus von Schülerinnen, die rassistisch und/oder antisemitisch (auch durch pädagogische Fachkräfte) diskriminiert und vom Schulpersonal nicht geschützt und adäquat begleitet werden. Gerade in der Aufarbeitung von hochkomplexen Konflikten möchten wir in der Demokratiebildung eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung ermöglichen. Die Tatsache, dass die Nachfrage an Fortbildungen für Lehrkräfte zur Thematik auffällig gestiegen ist, belegt, wie hoch der Bedarf an langfristigen pädagogischen Lösungen ist; gerade diese Bemühungen werden aber durch solche repressiven Maßnahmen völlig untergraben.

Lehrkräften in dieser herausfordernden Situation als unterstützende Hinweise lediglich Verbotsoptionen an die Hand zu geben, macht die vielschichtigen Probleme unsichtbar und bietet den Nährboden für weitere Probleme und Konflikte an Schulen. Wir identifizieren darin keinen aufklärenden Beitrag und halten die Anweisungen und Verbote für gänzlich ungeeignet, um vor Antisemitismus zu schützen. Dadurch wird in Kauf genommen, Zensur und Unterdrückung der palästinensischen Identität vorzunehmen. Unseres Erachtens gefährdet dies die Sicherheit, den Schutz und die Lernmöglichkeiten aller Schülerinnen. Dazu sollten Schulen Raum für Sorgen, Leid, Ängste, Wut und Trauer aller Schülerinnen schaffen.

Sie schreiben: „Die Vermeidung politischer, religiös-weltanschaulicher Konflikte in Schulen stellt ein gewichtiges Gemeinschaftsgut dar, welches eine Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigt.“ Grundrechte sind an keiner Stelle verhandelbar. Unsere langjährige Erfahrung zeigt: Diese Konflikte lassen sich aus Schulen nicht heraushalten und so sollte es vielmehr Teil des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule sein, den professionellen Umgang mit Konflikten auf Grundlage der Menschenrechte zu fördern. Gerade jetzt brauchen Schülerinnen Räume, Orientierungen und Impulse für eine reflektierte und kritische Haltung im Umgang mit den Geschehnissen – von offen, spezifisch und professionell beratenen Fachkräften, die ihnen das bieten können.

Wir erwarten, dass Sie das Schreiben in dieser Form zurückzunehmen und uns und weitere intersektional arbeitende Projekte aus der Rassismus- und Antisemitismusprävention einladen, um zu besprechen, wie diskriminierungskritische Seite 2 von 3 Angebote zum Umgang mit der aktuellen Situation mit Schülerinnen und Fachkräften für die Berliner Schulen erarbeitet werden können

Mit freundlichen Grüßen,

[Gezeichnet in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge:]
ReachOut/ ARIBA e.V. (sanchita_basu@reachoutberlin.de; Tel.: 0177/4015430)
Migrationsrat Berlin e.V.
HEROES – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Für Gleichberechtigung.
duvia e. V. (info@duvia.de)
Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in
Friedrichshain-Kreuzberg (AuF)

Kontakt für Rückfragen & Interviews:

Ed Greve

Telefon/Mobil: 0176 99 11 49 43