18. März 2023

Offener Brief an die verhandelnden Parteien

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen fordern einen Koalitionsvertrag mit expliziten antidiskriminierungs- und vielfaltspolitischen Maßnahmen

Berlin ist die Stadt der Vielfalt. In den letzten zwei Legislaturperioden hat die r2g Koalition wichtige Bausteine gelegt, um Diversitätsorientierung, Vielfalt, Antidiskriminierung, Gleichstellung und Empowerment in unserer Stadt strukturell zu stärken. Viele Entwicklungen sind auch durch das Engagement von Berlin, bspw. zur AGG-Novelle, PartMigG, zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und dem Selbstbestimmungsgesetz, von bundesweiter Bedeutung. Der Wahlkampf und die Sondierungen lassen leider vermuten, dass es zu einem Rückschritt kommt. Wir machen uns große Sorgenum die Zukunft unserer pluralen Berliner Stadtgesellschaft und die vielen Errungenschaften, die in den letzten Jahren erarbeitet wurden und strukturell zu spürbaren Verbesserungen beigetragen haben.

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Wir werden SPD und CDU an ihrem Koalitionsvertrag und dessen Umsetzung messen. Lassen sie Vielfalt und Antidiskriminierung als gesellschaftspolitische Themen unter den Tisch fallen, nur um eine Koalition einzugehen, oder gelingt es die fast 1,5 Millionen Berliner*innen mit Einwanderungsgeschichte angemessen zu berücksichtigen sowie inhaltlich und in der Förderung zu repräsentieren? Eine wirksame Antidiskriminierungspolitik liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Sie betrifft die unterschiedlichen Geschlechter genauso wie die Queere Community, Menschen von Jung bis Alt, mit Behinderung oder Einwanderungsgeschichte. 

Wir werden genau verfolgen, ob der Koalitionsvertrag durch unkonkrete Füllwörter gekennzeichnet ist, die weder durch signifikante Maßnahmen, gesetzliche Vorhaben oder Haushaltsmittel hinterlegt sind. Wie spezifisch wird die Regierung Vielfalt, Antidiskriminierung, Gleichstellung und community-spezifisches Empowerment benennen und konsequent stärken?

Das Ressort Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung ist in der Vergangenheit und insbesondere im letzten Jahr einen vielversprechenden  Weg gegangen, der weiter geführt werden muss, da er einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, der Antidiskriminierungsrecht als Recht aller begreift..

Als Bewertungsmaßstab dienen die wichtigen Vorhaben der letzten Legislaturperiode aus dem Koalitionsvertrag von 2021, sofern sie noch nicht umgesetzt wurden, sowie laufende fachliche Entwicklungen.

Bewertungsmaßstab für eine diversitätsorientierte Koalitionsvereinbarung

Partizipationsgesetz

  • Entwicklung einer Umsetzungsstrategie des Gesetzes binnen eines Jahres
  • Einsetzung eines Steuerungskreis beteiligter Senatsverwaltungen unter Federführung der für Integration zuständigen Senatsverwaltung
  • Begleitung des Prozesses durch die Migrationsbeauftragte und den Landesbeirat für Partizipation
  • Beteiligungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft
  • Evaluation in 2024 zur Prüfung der Weiterentwicklungsmöglichkeiten und zur Feststellung einer möglichen Notwendigkeit von verbindlichen Instrumenten
  • Im Bund setzt sich die Koalition (mit einer Bundesratsinitiative) für ein entsprechendes Bundespartizipationsgesetz ein.
  • Alle Gremien und Kommissionen sowie Runden der Partizipation bleiben erhalten
  • Der im Parlamentsverfahren befindliche Antrag zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft auf kommunaler und Landesebene wird abgeschlossen und im Rahmen landesrechtlicher Möglichkeiten auf eine Umsetzung hingewirkt sowie eine entsprechende Bundesratsinitiative in den Bundesrat eingebracht.
  • Berlin setzt sich im Bund für die Zulassung der Mehrfachstaatlichkeit ein und wird Spielräume für Ausnahmen bei der Lebensunterhaltssicherung und Sprachkenntnissen nutzen und das zu schaffende Landeseinbürgerungszentrum in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch aufstellen.

Landesdemokratiefördergesetz

  • Die Koalition erarbeitet mit zivilgesellschaftlichen Trägern ein Landesdemokratiefördergesetz, um das Engagement von zivilgesellschaftlichen Projekten und Initiativen insbesondere im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit, Demokratieförderung, Opferberatung und des Empowerments langfristig abzusichern.

Antidiskriminierung

  • Ausbau des „Landesprogramm Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“
  • Verstetigung der Antidiskriminierungs-,Beratungs- und Empowermentstrukturen der Zivilgesellschaft.
  • Dabei steht die intersektionale Perspektive im Vordergrund.
  • Fortführungen des Berlin-Monitor im zweijährigen Turnus
  • Fortentwicklung des Diversity-Landesprogramm und Verstetigung erfolgreicher Maßnahmen
  • Einführung von unabhängigen diskriminierungskritischen Untersuchungen der internen Organisationsstrukturen und -abläufe, der Personalentwicklung sowie die Implementierung von Antidiskriminierungs- und Diversitätsstrategien in allen Verwaltungen und ein datenbasiertes Monitoring.
  • Einführung eines „Diversitäts-Check“ in allen Verwaltungen
  • Erhaltung der neu errichteten Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und Errichtung der geplanten Fachstelle gegen Diskriminierung im Gesundheitssektor
  • Auf Bundesebene setzt sich die Koalition dafür ein, dass das Antidiskriminierungsrecht novelliert und im Hinblick auf öffentlich-rechtliches Handeln erweitert wird. Der bereits ins Abgeordnetenhaus eingebrachte Antrag der letzten Legislatur wird beschlossen und die Bundesratsinitiative in den Bundesrat eingebracht.
  • Evaluation und Weiterentwicklung des Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) unter Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Jahr 2024
  • Die LADG-Ombudsstelle wird in ihrer Verwaltungsunabhängigkeit gestärkt.
  • Im Rahmen der Evaluation wird geprüft, inwieweit die LADG-Ombudsstelle ein Initiativrecht erhalten kann.
  • Weitere Stärkung und Unabhängigkeit der Ombudsstelle (mit Erweiterung der Rechte und mindestens Gleichstellung mit Rechten des Polizei- und Bürgerbeauftragten, der nicht für Diskriminierung zuständig sein darf) sowie Umsetzung einer Unabhängigen Beschwerdestelle für Schulen.
  • Novelle des LADG, gemeinsam mit Zivilgesellschaft, um Rechtslücken zu schließen
  • Einführung und Evaluation eines „Fonds zur Unterstützung Betroffener extremistischer Gewalt“
  • Zum Schutz vor Diskriminierung im Netz wird die Koalition digitale Prävention und Opferhilfe durch modellhafte Projekte mit innovativen medienpädagogischen Ansätzen weiterentwickeln und stärken.
  • Einsetzung einer am Parlament angesiedelten Enquete-Kommission gegen Rassismus und Diskriminierung um unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Expert*innen strukturellen Rassismus und Diskriminierungen in Gesellschaft und staatlichen Einrichtungen aufzudecken und Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
  • Die Handlungsfelder der Antidiskriminierung werden u.a. erweitert um Bildung, Gesundheit, EU-Antidiskriminierungspolitik, Zugang zum Recht, juristische Ausbildung
  • Alle Fachstellen müssen erhalten und die Fachstellen in der momentanen Entwicklung umgesetzt werden
  • Für die Zugänglichkeit der staatliche Strukturen braucht es gleichzeitig Verstärkung der zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen
  • Forderung der Standards der Landesantidiskriminierungspolitik gelten auch in den Bereichen Bildung, Arbeit, Gesundheit, Inneres, Wohnen, Kultur, Justiz (siehe Reform der juristischen Ausbildung und Digitalisierung) usw; auch hier darf es in keinem Bereich ein Zurückfallen geben
  • Die Verwaltungsreform muss auch Zugänglichkeit, Antidiskriminierung, Inklusion usw mitdenken und in Umsetzung bringen
  • Keine Kriminalisierung von Armut, stattdessen effektive Verfolgung von White Collar Crime (siehe Ersatzfreiheitsstrafen)
  • Keine Diskriminierung in BVG und S-Bahn
  • Diversitätssensibele Organisationsentwicklung in der Verwaltung selbst
  • Der eingeschlagene Weg des stetigen Aufstockens  im Bereich der Projektförderung durch die LADS wird weitergeführt und Mittel werden entsprechend den Bedarfen der Antidiskriminierungsprojekte jährlich angepasst 
  • Winterabschiebestopps und das Ausnutzen aller Landesspielräumen für ein Bleiberecht
  • Machbarkeitsstudie zur City ID und Einführung bei Machbarkeit
  • Keine Abschiebung nach Moldau bzw. Berlin wird alle Möglichkeiten nutzen, um Angehörigen dieser Gruppe ein humanitäres Bleiberecht zu erteilen
  • Umsetzung UNBRK, Barrierefreiheit überall
  • Der Wohnberechtigungsschein wird ausgeweitet auf Geflüchtete, unabhängig von der Dauer des Aufenthaltsstatus

Gruppenspezifische Förderung

Rom*nja und Sinti*zze

  • Um Partizipation und Communitybuilding von Romn*nja und Sinti*zze zu fördern sowie Antiziganismus entgegenzutreten, wird der „Beirat für Angelegenheiten von Rom*nja und Sinti*zze“ gegründet
  • Die Koalition überführt den „Aktionsplan Roma“ in ein Landesprogramm zur Stärkung der Teilhabe von Rom*nja und gegen Antiziganismus gemäß den Evaluationsergebnissen des Aktionsplans.
  • Es wird eine Ansprechperson zur Bekämpfung von Antiziganismus benannt.
  • In der pädagogischen Aus- und Weiterbildung sowie in Rahmenlehrplänen werden rassismuskritische Kenntnisse über Geschichte und Gegenwart von Sinti*zze und Rom*nja und Antiziganismus stärker und verbindlicher vermittelt.
  • Die Koalition wird der Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja am Wohnungs- und Arbeitsmarkt aktiv entgegentreten. Für Rom*nja aus Drittstaaten werden spezielle Beratungsangebote mit Sprachmittlung bereitgestellt.
  • Die Ansprechperson zum Themenbereich muss in Partizipation mit den Communities eingesetzt werden
  • Die Förderung muss verstärkt werden
  • Die Arbeit zur Umsetzung des Beirats muss fortgeführt werden
  • Angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands für die Gruppe der Sinti*zze und Rom*nja wird sich Berlin für eine bundesweite humanitäre Bleiberechtsregelung für Rom*nja-Flüchtlinge aus Drittstaaten, die schon länger in Deutschland leben, einsetzen.

Schwarze Menschen

  • Im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft, werden die im Konsultationsprozess mit der Zivilgesellschaft erarbeiteten Maßnahmen gegen Anti- Schwarzen Rassismus umgesetzt. Die Errichtung eines Schwarzen Community- Zentrums wird, wie bereits beschlossen, gefördert.
  • Einsetzung und Weiterführung der Expert*innenkommission Anti-Schwarzer Rassismus (ASR)
  • Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Umsetzung der mit der UN-Dekade verbundenen Aufgaben a) Gleichstellung von Menschen afrikanischer Herkunft b) Abbau von ASR in die Routinen der Verwaltung und Politik auch nach dem Ende der Dekade

Jüdisches Leben

  • Um der Bedrohung von Jüdinnen und Juden entgegenzutreten, wird die Landeskonzeption zur Antisemitismus-Prävention mit der Zivilgesellschaft stetig weiterentwickelt.
  • Novelle Feiertagsgesetz
  • Umsetzung Bestattungsgesetz
  • Ausbau, Förderung Empowerment und Diversität jüdischen Lebens

Muslimisches Leben

  • Die Expertenkommission zu antimuslimischem Rassismus wird die Koalition fortführen, institutionell verankern und mit ihr eine ressortübergreifende Handlungsstrategie gegen antimuslimischen Rassismus auf den Weg bringen. Sie enthält mindestens Monitoring, eine Sensibilisierungskampagne sowie die Stärkung der bestehenden Beratungs- und Empowermentstrukturen.
  • Das Islamforum wird weitergeführt.

Gleichstellung

  • Novellierung des Landesgleichstellungsgesetzes
  • Das gleichstellungspolitische Rahmenprogramm wird fortgesetzt und durch eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie ergänzt.
  • Die Koalition wird das Berliner Gender Budgeting konsequent weiterentwickeln.
  • Dazu gehört die Implementierung eines Controllings und Gender Budgeting Referats,
  • Schulungen für die Verwaltungsmitarbeiter*innen sowie ergänzend zur AG „Geschlechtergerechter Haushalt“, die Einrichtung eines Beirats aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
  • Berlinweites Konzept zur Erhebung von Gleichstellungsdaten entsprechend der Dimensionen des Landesantidiskriminierungsgesetzes erarbeiten.

Queeres Leben

  • Die Koalition wird die „Initiative geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ (IGSV) mit den LSBTIQ*-Communities ausbauen und verankern, Mehrfachdiskriminierung entgegenwirken sowie neue Handlungsfelder erschließen.
  • 2023 wird ein aktualisierter IGSV-Maßnahmenplan verabschiedet.
  • Projektförderung wird noch stärker intersektional angelegt.
  • Maßnahmen werden stadtweit und bezirklich umgesetzt.
  • Zur Weiterentwicklung wirksamer Handlungskonzepte wird eine Studie zur „Wohnungslosigkeit von LSBTIQ*“ in Auftrag gegeben und ein eigenes Projekt zur Unterbringung von wohnungs- und obdachlosen LSBTIQ* auf den Weg gebracht.
  • Die Koalition fördert niedrigschwellige und bezirksübergreifende Angebote zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation für queere Personen mit Migrationsgeschichte, mit oder ohne Fluchterfahrung und unabhängig ihrer Bleibeperspektive.
  • Diese Angebote werden noch stärker in der IGSV verankert.
  • Keine Maßnahme wird zurückgenommen, momentane Entwicklungen fortgeführt, intersektionale LGBTIQ* Fachpolitik weiter gestärkt

Siehe auch: Richtlinien der Regierungspolitik 2021 – 2026.

Liste der Unterzeichner*innen

  1. Migrationsrat Berlin e.V. 
  2. Each One Teach One (EOTO) e.V.
  3. Initiative Schwarze Menschen (ISD) Berlin
  4. Flüchtlingsrat Berlin
  5. Antidiskriminierungsverband Deutschland e.V.
  6. neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V.
  7. KARAKAYA TALKS
  8. Center for Intersectional Justice (CIJ)
  9. ADEFRA
  10. KIEZconnect e.V.
  11. RomaTrial e.V.
  12. Bridges over Borders e.V.
  13. BIPoC Ukraine & friends in Germany
  14. Frauenkreise
  15. Space2groW
  16. Die Urbane. Eine HipHop Partei
  17. Ariba e.V. 
  18. International Women* Space
  19. Casa Kua
  20. Women in Exile
  21. Colectivo SVK – Selbstverteidigungskurs mit Worten
  22. Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg
  23. Colectivo Qellcay – Dekoloniale Praxis
  24. LAFI e.V. Neukölln
  25. trixiewiz e.V.
  26. deSta – Dekoloniale Stadtführung
  27. POWER ME – Stärkung von Kindern gegen Rassismus
  28. Berlin Postkolonial e.V.
  29. EAF Berlin 
  30. tubman.network

Kontakt für Rückfragen & Interviews:

Ed Greve, Referent für Antidiskriminierung

E-Mail: ed.greve [at] migrationsrat [punkt] de

Telefon/Mobil: 0176 99 11 49 43