8. März 2021

„Wir sollten auf Beteiligung von Menschen setzen“

Tanja Gangarova über HIV und Geschlechterverhältnisse und erforderliche Maßnahmen gegen Stigmatisierung, Rassismus und Diskriminierung in der Präventionsarbeit.

Liebe Tanja, HIV und Aids werden nach wie vor als „Schwulen-Problem“ wahrgenommen. Dabei lag der Anteil der Frauen an den HIV-Neuinfektionen im Jahr 2019 bei fast der Hälfte. Was hat HIV mit Geschlecht zu tun?

Foto von Tanja Gangarova

Foto: privat

Im Jahr 2019 lag der Anteil der Frauen an den HIV-Neuinfektionen weltweit bei 48%, ein Großteil davon waren Frauen of Color und Schwarze Frauen. Ganz klar hat HIV also auch mit Geschlecht und Geschlechterverhältnissen zu tun. Aber es geht natürlich um viel mehr: Sexismus hängt ja immer auch mit Rassismus, den Klassenverhältnissen, Kolonialismus, Homo- oder Transfeindlichkeit zusammen: Wirtschaftliche und finanzielle Ungleichheit, fehlende sexuelle und reproduktive Rechte, Gewalt, Diskriminierung und auch ein eingeschränkter Zugang zu Bildung behindern u.a. den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Diese Verhältnisse setzen Frauen HIV-bezogenen Risiken aus und sorgen so für neue HIV-Infektionen. Trans-Frauen, Frauen in der Sexarbeit; obdachlose Frauen; Frauen, die Drogen konsumieren, sind zudem einer Mehrfach-Stigmatisierung und -Diskriminierung ausgesetzt. Daraus wird oft sogar eine Mehrfach-Kriminalisierung, die wiederum schlimme Folgen für die Gesundheit und das Leben haben kann.

Dem Robert-Koch-Institut wurden in den letzten zehn Jahren über 31.000 HIV-Erstdiagnosen übermittelt. Fast jede dritte HIV-Erstdiagnose betraf eine Person, die in die Bundesrepublik eingewandert ist. Migrant_innen finden sich in jeder Zielgruppe, am häufigsten bei heterosexuellen Kontakten (72%). Schaut man sich diese Gruppe nach Geschlecht an, stellt man fest, dass mehr Frauen unter den Neudiagnostizierten sind als Männer – die meisten davon sind Schwarz und haben einen prekären Aufenthaltsstatus.

Früher wurde oft von „Risiko-Gruppen“ gesprochen. Heute wird eher von „vulnerablen“ Gruppe gesprochen, neben schwulen Männern und Drogengebraucher_innen eben auch Migrant_innen…

Im Gesundheitswesen hilft das Konzept der Vulnerabilität bei der Entwicklung gezielter Maßnahmen, indem es Gruppen identifiziert, die am meisten Schutz und Unterstützung benötigen. Dieses Konzept ist allerdings sehr ambivalent. Es führt eben auch dazu, dass Menschen zu „anderen“ gemacht werden. Geflüchtete Frauen werden z.B. oft als „rückständig“ und „bildungsfern“ gesehen und ihnen ihre Handlungsfähigkeit abgesprochen, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Dies führt dann zu kolonialen Praxen der Sozialen Arbeit, die das Verhalten der Menschen fokussieren – und in seltensten Fällen die Strukturen in Frage stellen. Die Menschen sind ja nicht von Natur aus „vulnerabel“, sie werden von den Strukturen verletzlich gemacht. Opfer-Narrative entsprechen oft nicht der Realität, gerade geflüchtete Frauen haben nämlich oft auch bemerkenswerte Ressourcen und Fähigkeiten… Wir sollten deswegen auch in Deutschland endlich Begriffe finden, die mehr auf die Beteiligung von Menschen setzen, statt ihre reale oder vermeintliche „Vulnerabilität“ in den Mittelpunkt zu stellen.

Wie geht die Deutsche Aidshilfe mit diesem Spannungsverhältnis um?

Die unkritische Übernahme epidemiologischer Begriffe ist weit im Kontext der Sozialen Arbeit verbreitet – auch im Bereich der HIV-Prävention. Somit wird bewusst oder unbewusst zur Stigmatisierung bereits stigmatisierter Communities beigetragen.

Im Bereich Migration der DAH haben wir uns ganz bewusst für den Ansatz der Community-basierten partizipativen Praxis und Forschung entschieden. Der Ansatz arbeitet mit dem Begriff der Community, denn Communities definieren sich selbst. Seine Prinzipien beinhalten eine explizite Aufforderung, Machtaspekte und Benachteiligung im Hinblick auf verschiedene Dimensionen zu reflektieren, und so auch rassistische Ausschlüsse. Beides nehmen wir als zwingend notwendig wahr, denn wir wollen vermeiden, dass bestehende Dominanzverhältnisse reproduziert werden, auch in der praktischen Zusammenarbeit mit den Menschen, die „vulnerabel“ gemacht werden.

Ich sage „im Migrationsbereich der DAH“, denn auch im Kontext von HIV-Prävention ist Intersektionalität als Fokus noch längst nicht etabliert. Die Anerkennung der Anliegen von stigmatisierten Communities und die Solidarität mit Communities, die nicht weiß-deutsch und schwul sind, geschieht nur punktuell. Das Teilen von Zugängen und Ressourcen ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit.

Gibt es etwas, das sich aus den Erfahrungen mit HIV und Aids für die Beschäftigung mit Covid-19 lernen lässt?

Das Konzept der strukturellen Prävention, das in Bezug auf HIV entwickelt wurde, lässt sich auch im Kontext von Covid-19 anwenden. Es sieht vor, individuelles Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse, also die Strukturen, zu beeinflussen, um Gesundheit lebensweltnah zu fördern und Infektionsrisiken zu reduzieren.

Beteiligung (Partizipation) muss als Grundprinzip der Präventionsarbeit anerkannt werden. Betroffene Communities müssen an der Entwicklung von Bekämpfungsstrategien und -maßnahmen beteiligt sein. Für den Bereich HIV/Aids findet sich eine solche Herangehensweise beispielsweise in den GIPA-Prinzipien (Greater Involvement of People Living with HIV/AIDS) wieder.

Darüber hinaus werden sicher auch Maßnahmen gegen Stigmatisierung, (strukturelle) Diskriminierung und Rassismus notwendig sein. Die HIV-Prävention wäre nie so erfolgreich gewesen ohne Maßnahmen gegen Homofeindlichkeit, gegen Kriminalisierung von Sexarbeit und/oder Drogengebrauch. In Bezug auf Corona muss viel politische Arbeit geleistet werden, um die Strukturen zu ändern, die Menschen daran hindern, ihre Rechte wahrzunehmen – u.a. auch das Recht auf Gesundheit – und/oder sie in risikoreiche Lagen versetzen: Wir haben alle von den prekären Arbeitsverhältnissen in der Fleischindustrie gehört, aber auch Wohnverhältnisse können desolat sein, beispielsweise in überfüllten Flüchtlingslagern oder Wohnungsloseneinrichtungen.

Es gibt aber auch die Übermittlungspflicht, die Illegalisierte besonders hart trifft. Sie haben zwar einen formalen Anspruch auf eine eingeschränkte ärztliche Behandlung, müssen sich aber selbst oder über die behandelnden Ärzt_innen zur Kostenerstattung an das Sozialamt wenden. Dieses ist gemäß § 87 Aufenthaltsgesetz zur Datenübermittlung an die zuständige Ausländerbehörde verpflichtet. Diese kann dann eine Abschiebung veranlassen. Aus Angst vor Abschiebung suchen viele daher gar nicht erst die nötige medizinische Hilfe.

Parallel braucht es Kampagnen gegen die „gesundheitspolitisch“ begründete Erzeugung von „Anderen“. Insbesondere Sinti_zze und Rom_nja und asiatische Menschen sind ja zumindest zeitweise stark rassistisch stigmatisiert worden.

Die Aufmerksamkeit muss meines Erachtens konsequent auf Gesetze, Routinen und Diskurse gelenkt werden, die beispielsweise Illegalisierung erzeugen und Stigmatisierung verstärken. Information, Beratung und umfassende medizinische Versorgung müssen für alle gewährleistet sein. Corona betrifft alle, aber nicht alle haben dieselben Möglichkeiten, sich und andere zu schützen – oder, im Fall einer Erkrankung, denselben Zugang zum Gesundheitssystem.

Tanja Gangarova (MA Geographie) ist Referentin für Migration und Leiterin der Abteilung „Strukturelle Prävention“ der Deutschen Aidshilfe e.V. (DAH). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration und Gesundheit, Diversity und Intersektionalität, audio-performative Methoden, Community-basierte partizipative Praxis und Forschung, politische Arbeit und Lobbyarbeit im Kontext von Migration und medizinischer Versorgung. Das Interview führte Sasha Kolotev.