10. März 2020

„Jeder Tag ist Frauen*Kampftag“

Nicht nur am 8. März haben feministische Forderungen Relevanz, sagt Gülşen Aktaş im Gespräch mit Koray Yılmaz-Günay. Gülşen liebt Rosa Luxemburg und verachtet Faschismus. Sie ist Kurdin, die global denkt und lokal handelt.

Liebe Gülşen, du warst eine der Autor_innen des Buches Entfernte Verbindungen: Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Nach dem Erscheinen 1993 ist es zum Klassiker der Frauenbewegung geworden – und insbesondere auch dein Beitrag hat hohe Wellen geschlagen. Er hat schnell dazu geführt, dass die spezifische Situation von Migrantinnen zum ersten Mal in einem weiten Kontext mehr Aufmerksamkeit erlangte. Unter anderem wurde daraufhin der Anteil von Migrantinnen in der Belegschaft von Frauen-Projekten erhöht. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass ganz vieles, von dem du schreibst, noch aktuell ist – oder vielleicht wieder aktuell… Wie blickst du zurück auf die letzten 30 Jahre?

Zunächst muss das Buch im Kontext seiner Zeit insbesondere in der emanzipatorischen Frauenbewegung verstanden werden. Es galt aufzuzeigen, dass auch in der Frauenbewegung rassistische und antisemitische Denk- und Verhaltensmuster feststellbar waren. Es war nicht die Absicht, die Frauenbewegung zu diskreditieren, sondern vielmehr über die Selbstverständlichkeit unserer Unterschiede gewahr zu werden und auch in unserer politischen Arbeit bewusst damit umzugehen. Weiterhin sollte das Buch dazu beitragen, den Paternalismus der deutschen Frauenbewegung aufzuzeigen, zu thematisieren und die migrantische Frauenbewegung sichtbarer zu machen.

Ungerechtigkeit und die Konstruktion von Unterschieden, ob politisch, ideologisch, ökonomisch und sozial, sind der Nährboden für eine Gesellschaft der Unterdrückung und Diskriminierung. Mann/Frau, deutsch/nicht-deutsch, weiß/Schwarz, arm/reich, heterosexuell/homosexuell sind nur einige Beispiele von Diskriminierungskategorien, die einen Menschen einzeln oder in Kombination treffen können. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Denk- und Verhaltensmuster in einer Gesellschaft, die täglich Ungleichheiten produziert, auch nicht vor emanzipatorischen Bewegungen Halt machen. Feminismus kann und darf sich nicht ausschließlich auf die Frage nach der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau beschränken. Er muss alle Varianten der Unterdrückung benennen und bekämpfen. Feminismus ist zugleich auch der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, soziale Ungleichheiten und alle anderen Diskriminierungsformen. Während und nach der Maueröffnung war der erstarkte Nationalismus ein großes Problem. Ich erinnere mich, dass jüdische Frauen, sofern möglich, mit dem Mauerfall Deutschland verließen.

In meinem Artikel hatte ich versucht, den Alltag des multi-kulturellen Zusammenlebens im Frauenhaus zu beschreiben und kritisch im Hinblick auf den Einzug rassistischer Muster zu würdigen. Weiterhin sollte der tabuisierte Rassismus und Antisemitismus der weißen Frauenbewegung benannt und thematisiert werden. Ziel war Partizipation und Quotierung innerhalb der Frauenprojekte. In der Folge wurde der Anteil von Migrantinnen in der Belegschaft von Frauen-Projekten erhöht, um diesen Prozessen entgegenzusteuern.

Ich hatte von 1986 bis Anfang der 1990er Jahre Kontakt zum jüdisch-lesbischen Arbeitskreis, der mein politisches Bewusstsein sehr geprägt hat. Es sind Bündnisse wie solche, die damals zwischen Afrodeutschen, Migrant_innen und jüdischen Frauen geschaffen wurden und bis heute halten. Diese Bündnisse führten dazu, dass das Politische auch persönlich wurde, da das eigene soziale Umfeld durch diese Bündnisse bereichert wurde.

Das, was heute oft zu hören ist, sind Forderungen wie: Frauen sollen in Aufsichtsräte, in Regierungsämter und in die Akademien, sie sollen Unternehmen leiten und in der Verwaltung hohe Positionen einnehmen. Ist aus der Frauenbewegung ein bisschen auch eine Bewegung für Damen geworden? Frauen, die in weniger hohen Positionen arbeiten – oder gar nicht arbeiten – scheinen nicht mehr von so hohem Interesse zu sein? Dabei sind doch gerade Migrant_innen, die wenigstens bis zur Wende wesentlich häufiger arbeiten gingen als nicht-migrantische weiße Frauen, besonders stark von Diskriminierung am Arbeitsmarkt betroffen?

Meine Meinung ist, dass Frauen in solchen Positionen weniger zur Stärkung des Feminismus beitragen, sondern eher durch solche Positionen und vor allem dem Umfeld vermännlicht werden. Sie zeigen keinen Unterschied zu Männern und werden damit zu deren Handlangern in der Rolle als Frau. Solche Forderungen sehe ich deswegen ambivalent. Dennoch gibt es auch positive Beispiele. Das stimmt mich positiv und gibt Hoffnung für die weitere Entwicklung von Frauen in einer patriarchischen Gesellschaft.

Zu der Diskriminierung von Migrant_innen auf dem Arbeitsmarkt ließ sich schon durch die Globalisierung in den 1990er Jahren feststellen, dass von den Arbeitslosenwellen stets Migrant_innen besonders betroffen waren. Bedauerlicherweise ist diese institutionelle Diskriminierung noch immer ein vorherrschendes Problem für Migrant_innen in Deutschland.

Feminismus ist heute wesentlich mehr als «Frauen» – wie kommen bei dir beispielsweise Debatten über Queer-Feminismus und Intersektionalität an? Gibt es Anknüpfungspunkte zu den 1980er und 1990er Jahren, was die Thematisierung von Rassismus und Klassenverhältnissen angeht?

Der derzeitige internationale Rechtsruck, in dem Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus erstarken, ist eine beängstigende Entwicklung unserer Zeit. Früchte dieses Hasses sind die NSU-Morde oder auch das Orlando-Attentat. Dennoch gibt es vielfältige intersektionale Bewegungen, deren Fokus auf Diskriminierung, Rassismus und Homophobie liegen. Kulturelle Nischen, wie sie beispielsweise mit der Partyreihe „Gayhane“ im SO 36 entstanden, waren ja auch für die Frauenbewegung sehr wichtig. So neu ist queerer Feminismus ja nun auch nicht…

Ein wichtiger Anknüpfungspunkt zu den 1990er Jahren ist die heutige politische Entwicklung, die unsere Sorgen, nämlich den durch den Mauerfall entstehenden Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, bestätigt. Dies ist beispielsweise an der Zunahme der AfD-Wähler_innen zu erkennen.

Du leitest heute den Nachbarschaftstreffpunkt Huzur im Schöneberger Norden. Die Gegend ist mit ein paar Orten der verbliebenen Frauenkultur, mit der Schwulen-Szene, mit der Sexarbeit von Cis- und Trans*-Frauen, mit Armut und Verdrängung, mit Kunstschaffenden und Gentrifizierung so etwas wie ein Hotspot von dem, was in Berlin gerade vorgeht. Wie wirkt sich die soziale Situation in der Nachbarschaft auf die Arbeit von Huzur aus?

Ich leite seit 2006 die Seniorenfreizeitstätte Huzur an der Ecke Bülowstraße/Frobenstraße. Der Schwerpunkt der Arbeit ist, für Senior_innen, abgesehen von kulturellen Angeboten, einen diskriminierungsfreien Raum zu schaffen.

Der Schöneberger Norden ist geschichtlich stark geprägt von der schwulen Szene, vom schwulen Aktivismus und entsprechenden Lokalitäten. Auf den Straßenzügen in unmittelbarer Nähe unseres Projekts sind Sexarbeiter_innen, sowohl Cis-als auch Trans*-Frauen, aufzufinden. Alle Menschen im Schöneberger Norden und ihre Realitäten sind natürlich Teil unserer Arbeit.

Seit Berlin Hauptstadt wurde, ist eine rasante Gentrifizierung wahrzunehmen. In meiner alltäglichen Arbeit erlebe ich Menschen, welche von dieser Gentrifizierung betroffen sind, beispielsweise Eigenbedarfskündigungen, rasante Mieterhöhungen usw. Hier lässt sich feststellen, dass die Politik versucht, einkommensschwache Menschen in die Randbezirke zu verdrängen. Die gesellschaftlichen Probleme und Forderungen werden somit auch geografisch aus dem Fokus gedrängt. Hier gewinnt die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt von Migrant_innen erneut an Relevanz.

Als letztes vielleicht: Was bedeutet der Internationale Frauenkampftag heute für dich?

Er bedeutet für mich die weiter bestehende Notwendigkeit feministischer Bündnisse, die den Internationalismus betonen und dazu aufrufen, näher zu rücken. Der Internationale Frauenkampftag bedeutet für mich, dass die aus dieser Bewegung entstandenen Forderungen immer noch sehr aktuell sind, da noch immer für Forderungen wie Gleichberechtigung und gleicher Lohn für alle gekämpft werden muss. Zwar haben sich Veränderungen und Verbesserungen gezeigt, aber diese sind in ihrem Kern rein kosmetisch und nicht strukturell. Auf der strukturellen Ebene hat sich kaum etwas verändert, stattdessen wurde sich nur an bestehende Strukturen angepasst.

Gülşen Aktaş liebt Rosa Luxemburg und verachtet Faschismus. Sie ist Kurdin, die global denkt und lokal handelt. Die Fragen stellte Koray Yılmaz-Günay. © Foto: Aynur Erdoğan